Orphisch

Wer kann sich schon dem Zauber von Muscheln und Schnecken entziehen? Von den Tausenden Arten der Schalentiere gibt es am Strand zwar immer nur einige unterschiedliche, aber man findet nie zwei genau gleich aussehende Klappen oder Gehäuse. Jede Schale ist individuell in ihrer Größe, Prägung und ihrem Farbspiel. – Bizarre Formen entstehen zufällig, wenn Glas zerbricht, und die transparenten, scharfkantigen Scherben reflektieren das Licht noch übermütiger. – Nur kurze Zeit sind frisch gepflückte Brennnesselblätter aktiv und sattgrün, das wildwachsende Kraut verfällt innerhalb von wenigen Stunden. Die samtig roten Rosenblütenblätter verwelken nicht so schnell. – Durch magmatische, sedimentäre oder metamorphe Prozesse sind Gesteine entstanden, meist bestehen sie aus Mineralgemengen, manche aus nur einer Mineralart. Man bestimmt sie nach Härte, Farbe, Transparenz, Glanz und Spaltbarkeit. – Schwing- und Steuerfedern sind zum Fliegen, aber die wärmenden Daunen fliegen leicht und ungezügelt.

In fünf Sockel lege ich die gesammelten, zerbrochenen, zerpflückten oder aufgehobenen, kleinen Teile. In der Akkumulation lösen sie sich aus ihrem bloßen Alltagszusammenhang, gewinnen Intensität, klingen leise.

Die Klänge sind in Töne aufgelöste Inschriften*, die Überschriften des Gedichtzyklus „Urworte. Orphisch” ** von J. W. Goethe: ΔΑΙΜΩΝ (Dämon) · ΤΥΧΗ (das Zufällige) · ΕΡΩΣ (Liebe) · ΑΝΑΓΚΗ (Nötigung/das Notwendige) · ΕΛΠΙΣ (Hoffnung).


Orphisch
5 Holzsockel, 88 x 24 x 24 cm, Muscheln und Schneckengehäuse, Glasscherben, Rosenblüten- und Brennnesselblätter, Steine, Federn, LED-Lichterkette, fünf Klangkunstkompositionen, fünf Lautsprecher, Speichermedien/Kabel/Audiotechnik

SoundART Köln Sonderschau des WDR während der ART Cologne, Köln, 2004
Orphisch Atelierhaus Galerie Vahle, Institut für neue Musik, Darmstadt, 2001
Antipasti, Raum für Kunst, Mönchengladbach, 1999


*Mittels eines Programms, das per MIDI Graphiken in Töne transformiert, werden die jeweils von mir individuell/charakteristisch geschriebenen griechischen Überschriften (die Gottheiten bzw. Grundmächte) des Nativitätsprognostikons hörbar: ΔΑΙΜΩΝ, ΤΥΧΗ, ΕΡΩΣ, ΑΝΑΓΚΗ und ΕΛΠΙΣ

**Urworte. Orphisch

ΔΑΙΜΩΝ

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

ΤΥΧΗ

Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.

ΕΡΩΣ

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

ΑΝΑΓΚΗ

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.

ΕΛΠΙΣ

Doch solcher Grenze, solcher eh’rnen Mauer
Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt;
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen.

J. W. Goethe (1817)