Peter W. Schatt
Vom Tonträger zum Bedeutungsträger: Transformation, Metamorphose und Mimesis
Zahlreiche bunte kreisrunde Scheiben, die – obwohl ruhend – je nach Betrachtungsweise sich zu drehen scheinen oder von innen heraus pulsieren – Katja Kölle hat zahlreiche Schallplatten aus Vinyl im Ganzen weiß grundiert, einseitig ganzflächig mit breiten konzentrischen Kreisen in kraftvoll strahlenden Farben unterschiedlich bemalt und sie auf Wänden oder Fußböden bisweilen in geometrisch streng geordneter, bisweilen in scheinbar willkürlicher Anordnung exponiert. In dieser Arbeit artikuliert sich das Ergebnis eines komplexen Verwandlungsprozesses – einer handwerklich durch Übermalung ausgeführten künstlerischen Transformation, die eine Metamorphose des Gehalts und eine Mimesis von Bedeutung und Bedeutsamkeit bewirkt. Es ist das Ergebnis einer ästhetischen Praxis der Ästhetisierung bzw. Neu-Ästhetisierung von Objekten, bei denen nicht ohne weiteres zu entscheiden ist, ob sie nur Gebrauchsgegenstände – und wenn ja, solche des Alltags – oder bereits selbst ästhetische Objekte sind, und dieses Ergebnis gibt selbst Anlass zu einer mehrdimensionalen ästhetischen Praxis, deren Handlungsfelder von einer wohlgefälligen Betrachtung bis zu einer vielfältigen Bedeutungszuweisung im Spannungsfeld von Alltag und Kunst, Gegenwart und Geschichte reichen.
Farbe verwandelt
Farben verleihen den Gegenständen neue Qualitäten: Durch Farbe erhält z.B. ein Tuch eine nähere Bestimmung und wird nicht nur zur einfachen Bekleidung, sondern auch zur Verschönerung des Menschen, der es trägt, brauchbar. Ein neuer Anstrich verleiht einem Haus nicht nur Schutz gegen äußere Einflüsse, sondern er trägt auch zu einem neuen Eindruck bei: Es vermag frischer und sauberer, aber auch konturierter und charakteristischer zu wirken. So sind auch die gleichen Formen von Porzellanobjekten wie z.B. Konfektdosen bei unterschiedlicher Bemalung bisweilen kaum wieder zu erkennen. Durch Bemalung mit Farben werden Objekte also offenbar so transformiert, dass sie nicht nur anders brauchbar, sondern selbst auch etwas Anderes werden – vielleicht auch nur in anderer Weise schön.
Diese Funktionen der Ästhetisierung und Charakterisierung durch Farbe haben neben dem formalen auch einen inhaltlichen Aspekt. Eine dynamische Qualität hat bereits Wassily Kandinsky durch seine These von den exzentrischen bzw. konzentrischen Wirkungen von Farben herausgestellt – die Wärme des Gelb trete aus diesem heraus und bewirke eine Distanz zwischen sich und dem Betrachter, die Kälte des Blaus ziehe den Betrachter geistig in sich hinein –, und bereits Johann Wolfgang von Goethe hat nicht nur auf die ins Räumliche wirkende Dynamik von Farben, sondern auch auf den Bezug zwischen unterschiedlichen Farbqualitäten und Emotionen aufmerksam gemacht: Er stellte nämlich bei der Beschreibung seines Farbkreises heraus, dass die Farben auf der von Gelb zu Rot verlaufende Seite seines Kreises, die er Plusseite nannte, „regsam, lebhaft, strebend“ stimmen, die Farben in der Fortsetzung des Kreises zum Blau hin – die Farben auf der Minusseite also – „stimmen zu einer unruhigen, weichen, sehnenden Empfindung“, und das Blau selbst „gibt uns ein Gefühl der Kälte“. Darüber hinaus traf er folgende Zuordnungen: Gelb wurde mit „Wirkung, Licht, Hell, Kraft, Wärme, Nähe, Abstoßen“ verglichen, Blau mit „Beraubung, Schatten, Dunkel, Schwäche, Kälte, Ferne, Anziehen“.
Katja Kölles Platten sind bunt. Obwohl ihnen daher keine der von Goethe (oder anderen) genannten Eigenschaften eindeutig zuzuordnen ist, besitzt jede eine eigene Charakteristik, eine eigene Weise, der Betrachtung zugänglich zu werden, die sich aus der spezifischen Zusammenstellung der Farben, ihrer Intensität, ihrer Verteilung und ihrer Breite ergibt. In einer ganz eigenen Weise wird vor allem die dynamische Qualität der Farben genutzt: Sie bewirkt eine Metamorphose von Raum in Zeit, von Farbe zu Klang, eine Mimesis von Musik im Objekt, die als zentrale Idee des Werks gelten dürfte.
Bemalung und Übermalung
Die Bemalung von Objekten des Alltags wird als sinnvoll dadurch begriffen, dass sie schützt, dekoriert und charakterisiert. Neben der pragmatischen hat eine Bemalung offensichtlich eine ästhetische Funktion; sie kann so tiefgreifend sein, dass sie eine Transformation des Gebrauchsgegenstands zum ästhetischen Objekt hervorruft. Eine derartige Umwandlung durch Bemalung gewinnt weitere Dimensionen der Bedeutung, wenn sie nicht auf Gebrauchsgegenstände gerichtet ist sondern auf solche, denen bereits sinnvollerweise eine ästhetische Qualität abzugewinnen ist. Die Übermalungen von Schriftstücken, Fotos und Gemälden, wie wir sie von Gerhard Richter und Arnulf Rainer kennen, stellen Eingriffe dar, durch die ein multiples Spannungsfeld entfaltet wird, weil sie unsere Gewohnheiten im Umgang mit Objekten – schon gar mit ästhetischen Objekten – verstören. Im Rahmen einer Metamorphose des ästhetischen Objekts durch den offensichtlichen Eingriff des Subjekts in einen bereits ästhetisch fungierenden Gegenstand wird etwas zerstört, am Zerstörten aber zugleich etwas erhalten. Die Übermalung verbirgt etwas, lässt aber zugleich an sich selbst und ihrem Verhältnis zum Übermalten etwas Neues erkennen. Durch sie wird dem, was allgemeine Geltung besaß, eine subjektive Deutung verliehen, die ehemalige Geltung wird durch eine aktuelle überformt, und neben der dadurch exponierten inhaltlichen Differenz der Bedeutung wird die Vergänglichkeit der Zeit selbst als eine formale, künstlerisch aber konstitutive Hinsicht ins Bewusstsein gerückt.
Auch durch die Bemalung von Schallplatten entsteht ein derartiges Spannungsfeld. Als ehemalige Schallplatte durchaus noch erkennbar, ist das bemalte Objekt nun nicht mehr seiner einstigen Funktion zuzuführen: Aus dem Tonträger ist ein Farbträger geworden. Nicht mehr vermag das Objekt Musik hervorzubringen – dafür erinnert es an diese Möglichkeit durch das, was es zeigt und wie es dies zeigt: Verbergen auch die Farbringe die ehemals schwarze Fläche, so heben sie doch eben jene Ringe hervor, die sich in den Rillen einst aufgrund dynamisch unterschiedlicher Abschnitte erkennen ließen. Zerstört ist die Grundlage der ehemaligen Funktion, bewahrt aber der Funktionsträger – und zwar in Form einer Metamorphose zum Kunstwerk, das zu einer Wahrnehmung anregt, in der ein Akt der Anverwandlung zu vollziehen ist: Durch die Betrachtung des übermalten Vinyls entsteht ein wechselvolles Spiel zwischen Erinnerungen an die ehemalige ästhetische und pragmatische Qualität der Platten – letzterer Erinnerung haftet im Zeitalter der CD, in dem Schallplatten primär nostalgische Funktion haben oder aber von DJs quasi als Instrument genutzt werden, ein musealer Zug an – und dem, was die Gegenwart der spezifischen ästhetischen Qualität der Objekte anzuregen vermag. Dabei geht es um Raum und Zeit, Stillstand und Bewegung, Musik und Bildende Kunst, Fläche und Raum, Tafelbild und Skulptur, Geschichte und Gegenwart.
Vom Akzidentellen zum Substanziellen
Zu den Charakteristika der Schallplatte gehörte zweifellos ihre Empfindlichkeit: Staub, Fingerabdrücke, gar Kratzer oder Hitzeeinwirkung waren sorgfältigst zu vermeiden, sollte der Musikgenuss rein und ungestört gewährleistet bleiben. Freilich sind das sorgfältige Auspacken, Kontrollieren und Auflegen ebenso zu den Akzidenzien im Umgang mit dem Medium zu zählen wie die visuelle Wahrnehmung des einwandfreien Zustands der gerillten Oberfläche als Träger ihrer Funktion – von essenzieller Bedeutung war die durch Rotation und Abtastung bewirkte Hervorbringung dessen, was ihr als musikalische Substanz unveränderbar eingeprägt war.
Durch die Übermalung ward jene Substanz vernichtet; sie hebt stattdessen hervor, was zuvor als bloße Grundlage der Funktion Nebensache war: die konzentrischen Kreise der Rillen. Was als Bedingung für das optimale Funktionieren zwar sinnvoll, aber bloß Nebensache war – die visuelle Kontrolle, vielleicht auch die Freude über einen einwandfreien Zustand der schwarzen Fläche – ist jetzt zur Hauptsache geworden: Dem schädigenden Eingriff durch jedwede Handhabung enthoben, prangt das Objekt an der Wand oder auf dem Boden, radikalisiert wie die ehemals bereits vorhandene, aber unwichtige Form der Ringe ist die Unberührbarkeit der Schallplatte zur Unberührbarkeit des Kunstwerks. Als solches ist die übermalte Platte in veränderter Weise der Aufmerksamkeit anheimgestellt: Was zuvor zweckgebundene Nebensache im wahrnehmenden Umgang mit dem Objekt war, ist jetzt zentrales Anliegen, an die Stelle des akustisch Wahrnehmbaren ist das einst nebensächliche Visuelle getreten, und nur dem Sichtbaren kann und soll nun noch die ästhetische Praxis gewidmet werden.
Dabei waren auch die Schallplatten keineswegs nur Gebrauchsgegenstände zur Ermöglichung musikalisch-ästhetischer Praxis. Neben ihrer Funktion, die Vergegenwärtigung von Musik zu ermöglichen, besaßen sie spezifische ästhetische Qualitäten, und zwar in drei Hinsichten. Zum einen bereitete die Berührung der Scheibe einen spezifischen haptischen Reiz, der aus Vorsicht und Sorgfalt herrühren mochte. Zum anderen war auch der Blick über das schwarze Vinyl nicht immer nur von pragmatischem Interesse – der Kontrolle von Kratzer- und Staubfreiheit – geprägt, sondern hinein mischten sich jene Momente ästhetischer Einstellung, die von Wohlgefallen an der Gelungenheit getragen werden. Freilich dürften diese Momente ästhetischer Praxis eher akzidentell gewesen sein im Vergleich mit jenem Genuss, den die erklingende Musik bereiten sollte – mag auch die Vorfreude auf diese den ästhetischen Umgang mit der Platte mitbestimmt haben. Auch die dritte Hinsicht wurde freilich nur im Zusammenhang mit einem einst funktionalen Akzidenz konstituiert, nämlich mit der Verpackung der Schallplatte. In dem Maße, wie die Hüllen nicht mehr bloß Schutz gewährten, sondern ihnen neben der dekorativen vor allem auch eine inhaltlich verweisende, semantisch aufgeladene Funktion zugewiesen wurde, wurden sie und die visuell-ästhetische Praxis, die sie ermöglichten, zu einem Bestandteil des Mediums, das für die Konstituierung der Bedeutung, die der später erklingenden Musik zugewiesen werden konnte, nicht unwesentlich war. Zugleich trugen sie dazu bei, dass eine andere Form der Zuwendung so wichtig werden konnte, dass sie den ursprünglichen Sinn zu verdrängen geeignet war: Die Charakterisierung des Schallplattenobjekts durch die unverwechselbaren Eigenschaften seiner Hülle ließen diese zum eigentlich Wichtigen werden, was insbesondere Sammlern die Schallplatte auch heute noch interessant erscheinen lässt.
Katja Kölles Platten werden nur zu Transportzwecken verhüllt. Die Herausforderung zum ästhetischen Sehen und Verstehen, die einst von den Hüllen ausging und der Platte selbst quasi als Akzidenz anhaftete, ist hier zur Substanz geworden: Das Verhüllende der Hülle ist hier der Schallplatte selbst aufmoduliert, die malerisch ausgezeichneten Objekte selbst laden zum Sinn- und Bedeutungszuweisung im Rahmen ästhetischer Praxis ein. Zwei Elemente, die diese im Umgang mit Schallplatten ehemals auszeichneten, bleiben erhalten und werden zugleich verwandelt: Die Wertschätzung, die nicht nur der Musik, sondern auch deren früher nicht gerade preiswertem – Träger galt, wird nun auf das Kunstwerk gewendet; und das Wunder, dass die schwarze Scheibe Musik hervorbrachte, wird in die Faszination transformiert, die vom Sehen des einst Klingenden ausgeht.
Musikalisierung der Bildenden Kunst
1. Stillstand als Bewegung
Normalerweise gefriert jede Bewegung zum Stillstand, wenn sie abgebildet wird – sei es malerisch, sei es fotografisch. Es bleibt der Einbildungskraft der Betrachter überlassen, den Bewegungs- und Handlungszusammenhang, von dem ein Bild einen momenthaften Ausschnitt darstellt, zu rekonstruieren. Hier ist immer wieder die zentrale Differenz zwischen den Künsten, zwischen Musik und Bildender Kunst gesehen worden: Die Musik entfaltet für ein quasi statisches Ohr eine Folge von differierenden Erscheinungen in zeitlicher Sukzession, die durch eine Denkleistung zu Einheiten von Gestalten zusammengeschlossen werden müssen, während das Auge sich in zeitlicher Sukzession dem unveränderlich Manifesten abgebildeter (oder gebildeter) Gestalten zuwendet. (Freilich bedarf es zur Wahrnehmung auch hier der synthetisierenden Kraft des Denkens.)
Durch Katja Kölles bemalte Schallplatten erfährt die gewohnte ästhetische Praxis visueller Wahrnehmung eine ungewöhnliche Dimensionierung: Bewegt sich das Auge, so scheinen die Platten zu kreisen, verharrt es auf einem einzelnen Objekt, beginnen die Farben von innen heraus zu pulsieren. Man kann diesen Effekt formalästhetisch und farbpsychologisch durch den gezielten Rekurs der Künstlerin auf den Komplementär-Effekt, die Entstehung von Interferenzen durch Intensitätsüberlagerungen an den Rändern angrenzender Farben und die durch nahe beieinander liegende Farben gleicher Helligkeits- bzw. Dunkelheitswerte bewirkte Aufhebung klarer Begrenzungslinien im Zusammenhang mit jeweils spezifischer Tonigkeit, Intensität und Positionierung der Farben erklären. Darüber hinaus aber ist entscheidend für die Eigenart des Kunstwerks zum einen, dass der Betrachter durch diese Wirkung veranlasst wird, sein übliches Verhalten bildnerischen Kunstwerken gegenüber zu radikalisieren, nämlich entweder auf eine Stelle zu starren oder den Blick immer wieder schweifen zu lassen; zum anderen wird ihm vollends überantwortet, was sonst gerne als Qualität des Objekts ausgewiesen wird: Weil er weiß, dass die Bewegung, die er sieht, nicht durch eine Bewegung der Objekte hervorgerufen wird, gewinnt die Hervorbringung ästhetischer Qualität als Akt eigener ästhetischer Praxis im Zusammenhang mit den ausgestellten Objekten einen eigenen, herausragenden Stellenwert.
2. Raum als Zeit
Dadurch, dass sich zu bewegen scheint, was bekannterweise stillsteht, wird der Raum, den die Objekte füllen, mit einer zeitlichen Qualität überformt. Umgekehrt ermöglicht es diese zeitliche Dimensionierung des Raums, den Objekten eine virtuelle Eigenart der Entfaltung im Raum zuzuschreiben: Im Kreisen nehmen sie dessen Länge und Breite, im Pulsieren seine Tiefe ein. Die Diskontinuität dieser Vorgänge in Abhängigkeit von Konzentration, Blickrichtung und -bewegung weist die Zeitlichkeit um Raum und die Räumlichkeit des Zeitlichen als eine nicht nur von den Objekten, sondern vor allem vom Verhalten der Betrachter und ihrer Wahrnehmungsweise abhängige Eigenart aus. Und durch das erinnernde Bewusstsein, dass die gegenwärtig wahrgenommene Bewegung eine Neuakzentuierung einer ehemaligen ist, nämlich jener Bewegung, der die Schallplatten es einst verdankten, Schall hervorzubringen, wird als weitere zeitliche Qualität dem räumlich Gegenwärtigen das Merkmal seiner Vergangenheit unausweichlich aufmoduliert.
Auch die Nachbilder der Objekte, die wir auf weißen Wänden zu sehen vermögen, stellen eine derartige zeitliche Dimensionierung des Raumes dar: Das Entstehen und Vergehen des Abbildes auf der weißen Wand, hervorgerufen durch eine Bewegung des Auges und somit etwas, was die Gegenwart als Auswirkung der Vergangenheit erscheinen lässt, hat in Verbindung mit der Spezifik der Objekte eine zutiefst symbolische Qualität. Zugleich wird auch hierin die Aktivität des Betrachters als Konstituens nicht nur für die Metamorphose von Bild in Abbild, sondern auch für dessen Auffüllung mit Bedeutung offensichtlich.
3. Farbe als Klang
Johannes Itten gehörte zu den wichtigen Künstlern, die im Medium der Malerei ihre Interpretation der spezifischen Erscheinungsform von Musik vorgelegt haben. Seine Werke zeigen, dass es ihm nicht nur auf dasjenige ankam, was sich im Erklingen von Musik in Melodik, Harmonik, Rhythmus, Tempo, Dynamik und Tonsatz in Form von Proportionalität darstellt (eine seiner Zeichnungen enthält die Worte: „Proportion ist die Ebene, auf der sich Musik und Malerei unmittelbar berühren“); vielmehr war auch und im Besonderen die Farbigkeit ihres Klanges für ihn wichtig. Seine diesbezüglichen malerische Umsetzungen begründete er mit der Äußerung: „Das urtümliche Wesen der Farbe ist ein traumhaftes Klingen, ist Musik gewordenes Licht“ (Itten, Kunst der Farbe, 1961).
Es scheint, als habe Katja Kölle an diese Überzeugung angeknüpft, um sie durch die malerische Dynamisierung eines ehemaligen Tonträgers weiterzuführen. Tatsächlich erhalten die Farbklänge bei ihr musikalische Qualität, und zwar nicht nur in dem Sinne, den der metaphorische Sprachgebrauch schon immer meinte, sondern in einer spezifischen, ästhetisch neuen Hinsicht: Die besondere Gestaltung der Objekte gewinnt den Farben eben jene Eigenschaft ab, die sonst nur den Klängen anhaftet – nämlich sich im Raum zeitlich – bzw. in der Zeit räumlich – zu entfalten und dabei durch das Besondere der ans Licht tretenden Gestalt an ehemaliges Musikalisches zu erinnern – oder aber die stille Vorstellung einer eigenen Musik zu ermöglichen. Natürlich hört man nichts in einem physikalisch-akustischen Sinne; die ästhetische Ansprache von Gehalten der Sinne aber, die neurophysiologisch in enger Beziehung miteinander stehen – der Sehvorstellung beim Hören und der Hörvorstellung beim Sehen – begründet hier eine stille Klangskulptur, deren nur psychisch zu konstituierende Musik sich der visuell wahrnehmbaren Erscheinung im Zusammenhang mit dem erinnernden, imaginativen Bewusstsein verdankt.
Vom Gegenwärtigen zum Vergangenen
Erinnerungen nicht nur an ehemalige Schallplatten, ihre einstigen Funktionen und ihre einstige Anmutung sowie an einst Gehörtes werden wach: Erinnerungen auch an Stationen der Kunstgeschichte, an denen auf ähnliche Weise gearbeitet wurde – mit teils ähnlichen, teils ganz anderen Intentionen.
Weniger – aber auch – kommen die Farbkreise in den Sinn, mit deren Hilfe versucht wurde, das künstlerisch nutzbare Material der Natur zu systematisieren. Nicht von ungefähr bildet die Geschlossenheit des Kreises, die perfekte Form, die Grundfigur dieser Darstellungen, sollte und konnte sie doch zugleich mit der Systematik die Einheit und Ganzheit des Kosmos – und damit zugleich die Geschlossenheit der Systematik – sinnlich-symbolisch vergegenwärtigen. Bei Katja Kölle sehen wir keine Farbkreise, aber kreisförmige Gestalten, bei denen die Implikationen derartiger Systematiken – fundierend auf naturwissenschaftlich nachweisbaren Gegebenheiten – künstlerisch intentional genutzt werden. Ansätze von Josef Albers und Max Bill werden hier aufgegriffen und weitergeführt, indem sie mit der zentralen Idee der Op-Art in Bezug gesetzt werden: Das Auge – genauer gesagt das Sehen – soll so angesprochen werden, dass der Betrachter mehr wahrnimmt als rein materiell tatsächlich vorhanden ist, um die Wirklichkeit des Sehens anstatt die der Objekte zu akzentuieren und so der Wahrheit des Künstlerischen nahe zu kommen. Räumlichkeit im zweidimensionalen Gemälde und Bewegung im statischen Kunstwerk bilden die zentralen Kategorien einer solchen Wahrnehmung. In dem Exponat im Ganzen entdecken wir den Gedanken der Serie wieder, hier aber modifiziert zur Wiederholung nicht des immer Gleichen, sondern des im Gleichen stets sich neu Darstellenden; ein minimalistisches Moment haftet der Beschränkung ausschließlich auf die Kreisform an, und die kräftig leuchtenden Farben selbst verweisen auf die Präferenzen der Pop-Art. All diese Verbindungslinien werden relevant im Zusammenhang mit der zentralen Idee, den Gedanken Johannes Ittens vom Bezug zwischen Musik und Farbe so weiterzuführen, dass er nicht im Felde der Idee verbleibe, sondern als Verzeitlichung des Raumes – und zwar hier in der durch die Spezifik der Objekte bewirkten Konkretisierung als Musikalisierung der Bildenden Kunst – im Zuge einer künstlerischen Mimesis Gestalt annehme.
Von der Wirklichkeit zum Traum
Schallplatten heute: Als veraltet verschmäht und ausrangiert, als Erinnerung an ehemaliges Kaufen, Besitzen, Anschauen, an vorsichtiges Berühren und Auflegen, an die Erwartung des Kommenden und das Wunder des Klangs nostalgisches (vielleicht auch kurioses) Sammelobjekt, aber auch von DJs gescratchte Quelle drastischer Musik – die Schallplatte heute: ein Objekt, in dem sich die Pluralität der gegenwärtigen Lebenswelt in praller Fülle versammelt. Vielleicht ist etwas von deren Drastik in den Farben der Objekte eingefangen; entscheidend aber ist, dass diese nicht nur über sich hinaus auf Anderes verweisen, sondern primär den Eigenwert einer ästhetischen Einstellung hervortreten lassen.
Musik zum Sehen? Gemaltes zum Hören? Wohl keines von beidem stellt Katja Kölles Installation übermalter Schallplatten dar. Sie tragen vielmehr durch ihre Beschaffenheit, ihre Konfiguration zueinander und zum Raum, in dem sie sich befinden, zur Konstituierung einer Situation bei, in der gegenwärtige Wahrnehmung und Erinnerung in ein komplexes Beziehungsgefüge geraten. Die zeitliche Dimension, die dem Raum durch virtuelle Bewegtheit – eine Bewegtheit, die nur der Betrachter selbst zu generieren vermag – abgewonnen wird, verschmilzt durch die – ebenfalls zeitgebundene – Erinnerung an ehemalige Beschaffenheit, Funktion und Substanz der Schallplatten – eben auch die einst durch sie zu vergegenwärtigende Musik, die hier durch Mal-Kunst und Arrangement fixiert, festgehalten, aufgehoben zugleich im doppelten Sinne ward – zu einem Gefüge des Denkens, das die gewohnten, alltäglichen Eigenarten des Sehens und Hörens in eigentümlicher – und schöner – Weise überschreitet. Und dadurch tritt hier Klang denn doch in die Wirklichkeit: als ein traumhaftes Scheinen, als eine aus der stillen und doch bewegten Form stumm emergierende Musik.