Barbara Barthelmes

Orte und Nicht-Orte. Klangliche Intervention im öffentlichen Raum – Kompensation und Spiegelung.

Je mehr man sich mit einem Thema beschäftigt, desto mehr verschwinden die Gewissheiten. Feststellungen, die man einmal getroffen hat, geraten ins Wanken, neue komplexe Sachverhalte treten in den Vordergrund. Mir ist dies im Zusammenhang mit meiner Beschäftigung mit der Klangkunst öfters so ergangen, insbesondere aber mit dem Aspekt des Ortes bzw. der Frage nach dem „Ort“, an dem sich das gesellschaftliche Moment in diese künstlerische Praxis einschreibt. Viele ortspezifische klangkünstlerische Projekte bewegen sich bewusst im öffentlichen Raum und so stellt sich die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion ganz zwangsläufig.

Eine der schon zu einem Gemeinplatz gewordenen Antworten auf diese Frage, ist die Annahme, die Klangkunst im öffentlichen Raum kompensiere dessen sichtbar werdenden Zerfall. In einer Situation, in der der öffentliche Raum nur mehr als ein Element von Bewegung, des Verkehrs von Menschen, Waren und Informationen fungiert, in der die urbane Wirklichkeit von transitorischen und provisorischen Gesten bestimmt wird, die kein In-Beziehung-Setzen der Menschen zu einem bestimmten Ort mehr zulassen, bieten Klangkunst-Projekte Momente des Innehaltens und rekonstruieren Identität und Geschichte.

Diese These hat keinen guten Ruf, scheint sie doch die Kunst auf die Rolle der Trösterin einzuengen und so gewissermaßen zu degradieren. Woher kommt die Annahme des Zerfalls, des Verschwindens des öffentlichen Raumes und inwieweit können die künstlerischen Interventionen überhaupt vor dieser Folie interpretiert werden.

I

Sowohl die These vom Zerfall des öffentlichen Raumes, als auch die Anfänge ortspezifischer Interventionen durch die Kunst führen in die Zeit zwischen Ende der 50er und Anfang der 70er Jahre zurück.

Damals wird der öffentliche Raum, in dessen Kontext sich das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft ausdrückt oder konstituiert, vermehrt Gegenstand soziologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung: So beispielsweise in A. Mitcherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Anstiftung zum Unfrieden von 1965, J. Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962 oder Richard Sennetts Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 1974 unter dem Titel The Fall of Public Man erschienen und Henri Lefèbvres Revolution der Städte von 1972. Basis dieser Texte sind die immensen gesellschaftlichen Umbrüche, die mit den raumgreifenden Expansierungsschüben der kapitalistischen Produktion einher gegangen sind: dem Ausbau der industriellen Massenproduktion in den 50er und 60er Jahren, den Informatisierungs – Flexibilisierungs- und Venetzungsprozessen in der Produktion und die Globalisierung bei zeitgleicher Lokalisierung der Verkehrsformen.

Dabei wird der gebaute Raum, insbesondere der urbane Raum als Ausdruck oder Symbolisierung betrachtet, in dem sich diese gesellschaftlichen Verwerfungen baulich-plastisch räumlich niederschlagen.

Das heißt, Angriffspunkt dieser Kritiken ist nicht nur eine bestimmte Gesellschaftsform – die Singularisierung der Lebensformen und die Vernichtung kollektiver Formen -, sondern implizit auch die Bauweise, die diese Gesellschaftsform repräsentiert. Und in den 60er Jahren war dies ein Städtebaukonzept, wie es ab den 20er Jahren im Umkreis des Bauhauses und anderen von Le Corbusier 1933 und 1943 stellvertretend für eine Gruppe von Architekten in der Charta von Athen1 formuliert worden ist.

Die Charta von Athen manifestierte eine Schnittstelle unterschiedlicher historischer Entwicklungen und Leitbilder. Sie ist getragen von einem sozialutopischen Gestus, in den die Leitbilder der französischen Revolution und der Arbeiterbewegung eingingen. Gleichzeitig werden dort aber die Vorstellungen einer szientistischen Transformation der Gesellschaft umgesetzt. Die Charta überträgt die Prinzipien des Taylorismus und Fordismus in den Städtebau und in ihre Konzeption von Raum. Die chaotische Großstadt soll durch Rationalisierung in einen homogenen nach unterschiedlichen Funktionen gegliederten Stadtraum überführt werden. Aus diesem Ideengemenge entfaltete sich, wie es Lyotard ausdrückt die „große Erzählung der funktionalistischen Urbanität.2 In aller Konsequenz ist die Charta von Athen glücklicherweise nicht umgesetzt worden. Allerdings griff man in der Notwendigkeit des Wiederaufbaus in Europa begierig auf diese Konzeption zurück. Zeugen dieser städtebaulichen Doktrin umgeben uns heute vielerorts, zum Beispiel in Neu-Perlach in München, Halle-Neustadt, das Märkische Viertel in West-Berlin, Mahrzahn in Ost-Berlin, der Wiederaufbau der Innenstädte wie etwa in Hannover, Stuttgart, Kassel, Berlin-Mitte dokumentieren den Einfluss dieses Leitbildes auf die damalige Baupolitik.

Die Kritik, die die Gesellschaftswissenschaften am Zustand des öffentlichen Raumes übte und übt konzentriert sich dabei auf die so genannten „Nicht-Orte“ – eine Wortschöpfung, die der französischen Ethnologen Marc Augé durch sein Buch Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992 ins Spiel gebracht hat, auch wenn sie ursprünglich nicht auf ihn zurückgeht. Augé zählt zu den Nicht-Orten vor allem Verkehrsräume, Konsumptionsräume und Kommunikationsräume und sieht sie im Gegensatz zu den Orten, die sich durch Identität, Relation und Geschichte auszeichnen.

(Ironie des Schicksals ist es übrigens, dass die Charta 1933 als Abschlussresolution eines Kongresses über die Funktionale Stadt an einem Nicht-Ort par excellence formuliert wurde: an Bord eines Schiffes). Sie verkörpern das, was Thierry de Duve im Hinblick auf öffentliche Räume wie das Forum Romanum, die Piazza Navona – alles Plätze und Orte, an die es uns als Touristen ja sehnsuchtsvoll zieht – mit „harmony“ bezeichnet hat. Gemeint war: „the cultural tie to the ground, territory and identity . the cultural consensus on the perceptive grid of reference … the human body as measures of all things.“3 Was bedeutet, dass sich Orte im kulturellen Alltag und Leben verankern müssen, dass ich darüber ein Konsens herstellen muss und dass es durchaus eine Rolle spielt, wem der Ort gehört, ob er Privatbesitz ist oder Allgemeinbesitz. All das zusammen sichert die Authentizität des jeweiligen Ortes im öffentlichen Raum. Demgegenüber stehen Nicht-Orte, die „ wie die Geisteshaltung und die Beziehungen zur Welt, die sie hervorrufen, ein Charakteristikum der heutigen Welt sind.“4

Vergegenwärtigt man sich die Orte, an denen Klangkünstler im öffentlichen Raum agieren, so ist eine gewisse Vorliebe für diese Nicht-Orte nicht zu übersehen. Sie positionieren sich aber nicht nur in Passagen (Music for Passageways (1985-89) von Robin Minard oder in Durchgangsorten wie Bahnhöfen und Flughäfen (Max Neuhaus am New York Times Square (1977-92) oder Bill Fontana im Kölner Bahnhof, Brian Enos Ambient 1 – Music for Airports), an Übergängen zwischen Natur und Stadt bzw. in Parks und Gärten (Robin Minards Klangweg 1994 in Paderborn Schloss Neuhaus. Sie markieren auch Ruinen und Stadtbrachen, wie zum Beispiel Bernhard Gál und Yumi Kori Machina Temporis 2002 in der Franziskaner Klosterruine in Berlin, Bill Fontana auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs. Leere Orte und noch nicht fertig gestellte Orte scheinen ebenfalls eine besondere Faszination auszuüben. Ich erinnere an das Projekt Klangkunstforum Parkkolonaden in den noch nicht bezogenen Räumen eines Baukomplexes der Hypovereinsbank am Potsdamer Platz. Oder an Christina Kubischs Projekt Klang Fluss Licht Quelle 1999 in einer noch nicht fertig gestellten und in Gebrauch genommenen Tiefgarage unter dem Potsdamer Platz oder Georg Kleins Klangintervention Transition – Berlin Junction vor der Philharmonie in Berlin. Urbane Naht- und Bruchstellen und historische Orte gehören auch in das Repertoire der Orte: Besonders markant waren in diesem Sinn die Orte, die 1991 kurz nach der Wiedervereinigung die Projektleiter der Berliner Ausstellung Von der Endlichkeit der Freiheit auswählten. Vergleichbar damit war die „ortspezifische Konzeption“ von Sonambiente, die viele Klanginterventionen an neuralgische Orte der sich zumindest baulich wiedervereinigenden Stadt legten. Orte, die heute nicht mehr existieren oder vollständig verändert sind. Es zählen aber auch die Projekte dazu, die den von den Kuratoren zur Verfügung gestellten Ort der Galerie oder des Museums wählen, um von da aus auf den äußeren räumlichen Kontext zu reagieren.

Die Kritik an der funktionalen Stadt, vor allem an ihren Folgen für die Menschen im öffentlichen Raum, hat den Topos des Zerfalls, des Verschwindens aufgebracht und ihn an bestimmten Orten, den sog. Nicht-Orten exemplifiziert. Wenn Klangkünstler eine gewisse Vorliebe für diese Orte zeigen, ist ihr Interesse daran tatsächlich mit der Intention verknüpft, dort, wo der Städtebau versagt hat, regulierend, kompensierend einzugreifen?

II

Fast gleichzeitig mit der Verbreitung der in der Charta von Athen artikulierten Sicht des modernen Städtebaus und der an ihr sich direkt und indirekt entzündende Gesellschaftskritik formieren sich künstlerische Bewegungen, die sich bewusst in den öffentlichen Raum begeben und den Ort selbst thematisieren. In diesem Zusammenhang nehmen die Situationisten eine Vorreiterrolle ein. Die Situationistische Internationale war eine künstlerische Bewegung, die 1957 von den Künstlern Guy Debord (gest. 1994) und Asger Jorn (1914-1973) ins Leben gerufen wurde und im Zusammenhang mit den modernen Aufstandsbewegungen gesehen werden muss. Sie wollten das Projekt der alten revolutionären Internationale erneuern und darüber hinaus mit einer heftigen Kritik an der bestehenden Kunst und Kultur verbinden. Eingebettet in eine radikale Kritik des Nachkriegskapitalismus und der von ihm hervorgebrachten Architektur- und Kunstauffassung bzw. urbanen Konzepte hat die Situationistische Internationale ihre ästhetischen Strategien an der urbanen Lebensform ausgerichtet. Der Künstler tritt aus dem Atelier heraus und wird, wie schon vor ihnen Franz Hessel, Walter Benjamin zum Flaneur. Das Umherschweifen wird zu einer mit den „Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise: Es ist die Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen.“5 Genau diese Verhaltensweise benötigt man zur psychogeographischen Erforschung der Stadt, will man erkunden, was die unmittelbare Wirkung der der örtlichen Gegebenheiten, des geographischen Milieus und der durch sie geprägten Stimmungen auf das Gefühlsleben ausmacht. Die politische und kulturelle Strategie, um konkret in den urbanen Raum zu intervenieren, besteht in der „Konstruktion von Situationen, die sich zwischen die verschiedenen Situationen/Räume schieben, in denen die Menschen in der Stadt leben und sich aufhalten. Dabei nutzt der Situationist seine Kenntnisse der psychogeographischen Stimmungen, die eine Gesamtheit von Eindrücken darstellen, die die Qualität eines Moments ausmacht.“ 6 Eine Situation hat grundsätzlich keinen dauerhaften Status, sie ist eine ephemere Form, ein Durchgangs-Moment. Und dieses Moment wird strukturiert durch Gesten und Handlungen der an der Konstruktion Beteiligten, die Künstler und die Zuschauer, die dort zu Akteuren werden.

Neben den Situationisten und der Minimal Art, war es vor allem die Land Art, die die Auseiandersetzung um den ort, um die Kunst im öffentlichen Raum geführt hat – praktisch und theoretisch. Robert Smithson (1938-1972), ein Hauptvertreter der Land Art reflektierte bereits in den 60er Jahren, was bis heute in den Klanginterventionen Praxis ist. Er stellte den Galerieraum – den er übrigens Non-Site nennt – mit dem Außenraum gleich, löst den Antagonismus zwischen dem Außenraum, dem Environment und dem institutionellen Raum der Kunstvermittlung auf. Er betont die funktionale Beziehung des Non-Site der Galerie zum Außenraum. Denn die vergänglichen, ephemeren Orte der Land Art bedurften einer konzeptuellen Verankerung. Für Smithson ist der Non-Site einer Galerie ein Indoor-Earthwork. Das heißt, dass dort der reale Ort abstrakt oder metaphorisch repräsentiert werden kann. Etwa so wie ein Grundriss ein Gebäude repräsentiert oder eine topographische Karte abstraktes Symbol einer konkreten Landschaft sein kann.

In der von ihm entwickelten differenzierten Typologie von Orten treten erneut die Orte zutage, an denen die Kritik den Zerfall, das Abbrechen einer gelebten Öffentlichkeit festmachte: Die Bevorzugung von Orten, die „leere“ Räume darstellen wie beispielsweise Industriegebiete ohne Industrie, neue Galerien und Museen ohne Gemälde und Skulpturen, Parkplätze ohne Autos, Einkaufszentren ohne Waren, Bürogebäude ohne Geschäftstätigkeit, aber auch andere urbane Bauformen, wie Staudämme, Kraftwerke, Tunnels und Brücken. Entscheidend für die Differenzierung dieser Räume ist das ihnen eigene ästhetische Potential. Die Gestaltqualitäten eines Ortes sind für Smithson durch den umfassenderen räumlichen Kontext bestimmt. Der Künstler, von ihm als Orts-Seher bezeichnet, stellt den Ort aus und greift in unterschiedlichem Maße in den räumlichen Kontext ein. Die künstlerische Intervention besteht in der Reflexion und Integration dieser räumlichen Situation. Disparate und unterschiedliche Informationen, die Konkretheit, die Physis eines Ortes und nicht bestimm- und vorhersehbare Faktoren (wie zum Beispiel die Frequentation, Verkehr, klimatische Bedingungen usw.) sind weitere Koordinaten, in denen sich der Künstler bewegt und die auch die Labilität und Vergänglichkeit des Ortes ausmachen.

Für die Situationisten wie für Robert Smithson war das Interesse an den sog. Non-Sites nicht durch den Wunsch motiviert, eine Leere auszugleichen oder einen Mangel zu beheben. Diese spezifischen Orte sind deshalb so attraktiv, weil sie semantisch noch nicht so aufgeladen sind, weil sie offen sind für neue und andere Signifikationen. Ihre besonderen ästhetischen Qualitäten liegen gerade in dem Prozessualen, im Wandelbaren, im Labilen und Offenen. Genau diese Eigenschaften, die sowohl für die urbane in Stein gebaute Landschaft, als auch für das noch unbebaute Environment gelten, werden nicht als Zeichen des Verlustes betrachtet, sondern als sichtbare Zeichen einer Grund legenden menschlichen Praxis, das Bauen, das Konstituieren von Orten, das Aufbauen von Bezügen, das Herstellen von Raum.

III

Ich möchte nun zwei zeitgenössische Beispiele einer Klangkunst im öffentlichen Raum vorstellen, die das eben ausgeführte – gut 40-50 Jahre später auf besondere Weise umsetzen.

Katja Kölles Installation Marly oder Die Stadt als Klangkabinett, mit der sie 2004 den Deutschen Klangkunstpreis des Skulpturenmuseums Glaskasten Marl gewonnen hat, ist ein im Sinne Robert Smithons Indoor-Earthwork. Sie vernetzt den Ort des Museums mit dem öffentlichen Raum der Stadt Marl auf vielfältige Weise. Ihrer Installation und Raumgestaltung gehen verschiedenen Erforschungen des Stadtraums Marl voraus, die im Kontext der Installation auch dokumentiert werden. Sie bestimmt quasi-archäologisch sein geologisches Fundament – den Mergel, ein Art Muschel-Kalk-Stein. Sie erstellt eine neue Topographie von Marl, die auf Bildern, Klängen, verschiedenen Materialien und Gerüchen beruht. Ausgehend vom Museum als Fix-und Bezugspunkt kennzeichnet zunächst die nächste Umgebung des Museums: den City-See mit dem Skulpturenpark des Museums, der Kommunialfriedhof, ein verwildertes Wäldchen und das Einkaufszentrum Marler Stern. In gleicher Weise verfährt sie mit der Peripherie von Marl: Im Norden der Chemiepark, im Osten ein Naturschutzgebiet Die Burg, im Süden die Zechentürme bei Herten und im Westen das Technozentrum werden als Außenpunkte markiert. Von allen Orten sammelt sie ortspezifische Materialien. Neben Fotos sind das Lauge – City See /chemische Industrie in Marl; Asche – Friedhof / Steinkohleabbau; Laub – Wäldchen / Baumbestand der Stadt / Naturschutzgebiet; Lakritzrauten – Wahrzeichen Marler Stern / Konsum im Einkaufszentrum. Wie ein photographer of sound lichtet sie auch die Geräusche aus den vier Nahbereichen des Museums ab und unterwirft sie einem Bearbeitungsprozess.

In ihrer Installation proijziert Katja Kölle den Außenraum Marls komprimiert und metaphorisch überformt in den Innenraum des Museums. Sie schafft drei Ebenen, die sich klanglich, visuell, haptisch und olfaktorisch erschließen. Die unterste Ebene, die an die Sedimentschichten der Stadt anknüpft, ist ein Muschel-Kalk-Stein-Feld. Wenn man dieses Feld betritt, knirscht der Boden wie Harsch unter den Füßen. Man hört nicht nur den Klang des sich auflösenden porösen Steins, man fühlt auch dessen Unebenheiten an den Füßen. In der mittleren Ebene besteht aus den vier verschiedenen Materialakkumulationen, die den entsprechenden Geräuschakkumulationen zugeordnet werden. Diese Materialakkumulationen befinden sich in kubischen Glasbehältern auf Holzsockeln im Steinfeld. Die nach oben offenen Gefäße fungieren als Filter für die Geräusche und Klänge. Die Klänge bringen die Lauge, die Asche, das Laub und Lakritzrauten in Bewegung, so dass sich die olfaktorischen Reize besser auf die Luft übertragen und wahrgenommen werden können.

Als obere Klangebene schwebt ein leises Rauschen über den Köpfen der Besucher. Ein komponiertes Rauschen, das sich aus den Rauschen und Dröhnen der Lüftungsanlagen des Chemieparks, aus dem Wind über den Wiesen, aus brausendem Fahrzeuglärm in der Nähe des Technozentrums und dem Rauschen eines Baches im Naturschutzgebiet speist. Das Rauschen in der Installation hat eine, dem malerischen Sfumato vergleichbare Wirkung.7

Das Projekt TRASA warschau-berlin von Georg Klein, das im Herbst 2004 realisiert wurde, repräsentiert den Typ einer interaktiven Installation im öffentlichen Raum. Zwei weit entfernte Orte – unterirdisch gelegene Durchgangsräume – U-Bahnzugang in Warschau (Plac Defildad) und Berlin (Alexanderplatz) – werden visuell und akustisch aneinander geknüpft. Ziel ist, jeweils dort, an den passageren Orten der Großstädte für einen unbestimmten Moment einen Kommunikationsraum entstehen zu lassen.

In beiden Passagenräumen werden die zufällig vorbeikommenden Passanten auf Video aufgenommen. Diese Videobilder werden in die jeweils andere Stadt per Internetlivestream übertragen. Beide Bilder, das aus der anderen Stadt und das vor-ort aufgezeichnete werden nebeneinander auf eine Wand projiziert. Dabei aber visuell verfremdet und zeitlich verzögert. In Berlin beispielsweise entsteht dieser Verfremdungseffekt dadurch, dass eine gelb gekachelte Wand als Projektionsfläche dient. Innerhalb dieser Konstellation hat Georg Klein eine – wie er es nennt – akustische Texttopographie installiert. Zwei Texte – die Gedichte Glückloser Engel 2 von Heiner Müller und Bahnhof von Wislawa Szymborska – werden hörbar, sobald ein Passant den Bereich betritt, der durch einen Laser-Distanzsensor markiert ist. Der Text kann gewissermaßen abgeschritten werden und die verschiedenen Textpassagen werden dabei abhängig von der eigenen Position im Raum erfahren. Die Textloops werden dabei über 12 im Raum verteilte rote Hornlautsprecher in sich verändernden Klangvariationen und Stimmvervielfachungen abgespielt. Während die Passanten in der Warschauer Passage den polnischen Textfluss bestimmen, steuern die in der Berliner Passage den deutschen Textfluss. Die Steuerungsdaten werden simultan übertragen, so dass beide Texte in beiden Räumen entsprechend zu hören sind. Die beiden Sprachen mischen sich zu einem gemeinsamen Klangraum, einem Raum zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen.

Georg Klein interveniert in TRASA in einem öffentlichen Raum, der von Verkehr, Passantenströmen und merkantilen Interessen geprägt ist. Er unterbricht diesen Strom ganz direkt und konkret, schiebt seine akustische Texttopographie und die Spiegelbilder der Passanten als ein gleichzeitig virtuelles und reales Raumsegments den urbanen Lebensraum. Er aktiviert an diesem für das städtische Leben so charakteristischen Übergangs-Ort einen möglichen öffentlichen Raum. 8

IV

In der negativen Konnotation, die im Topos des Zerfalls, des Verschwindens des öffentlichen Raums und seiner Orte liegt, schwingt immer noch die Vorstellung eines homogenen Raumes als Folie mit, der nach verschiedenen Funktionen eingeteilt, der Öffentlichkeit nur Verfügung steht. Der Zugriff der Künstler auf die Bruchstellen, auf die so genannten Nicht-Orte basiert aber auf der realen Lage, die die eines vielfach aufgesplitterten gelebten Raumes ist. Und sie gleichen nicht ein Minus an Öffentlichkeit aus bzw. nehmen einer bestimmten gesellschaftlichen Realität die Schärfe. Im Gegenteil: Sie spüren gerade – ob als Psycheographen oder als Orts-Seher – in den am Rande einer faktischen Öffentlichkeit angesiedelten Räumen deren potentielle Öffentlichkeit auf. Sie schaffen neue Räume.

Diese neuen Räume nehmen, um auf die eingangs gestellte Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion zurückzukommen, die Funktion von Heterotopien ein. Dieser Begriff geht auf Michel Foucault zurück und bedeutet dort:

„Unter all den verschiedenen Orten gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als die übrigen Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume … lokalisierte Utopien.“9

Heterotopien sind, so Foucault, nicht Ausdruck der Gesellschaftsstruktur oder eines sozialhistorischen Systems, sondern Ausdruck von Brüchen, Schwellen, Übergängen des alltäglichen Lebens. Sie sind in der Lage, an ein und dem selben Ort mehrere, oft unvereinbare Räume zusammenzubringen, wie es zum Beispiel das Theater oder das Kino tut, das auf dem Rechteck seiner Bühne viele Orte darstellen kann oder auf die zweidimensionale Leinwand dreidimensionale Räume aufspannt. Heterotopien sind nicht im Modus der Ewigkeit, sondern bewegen sich vielmehr im Zeitstatus des Festes, tauchen auf und verschwinden nach einer Weile wieder. Und sie stellen grundsätzlich alle anderen orte erst einmal in Frage, in dem sie einen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur Unübersichtlichkeit unseres Raumes andere Ordnungen aufweist und andere Rituale und Verhaltensweisen erfordert.

Katja Kölle erfindet und findet in ihrem Klangkabinett für eine bestimmte zeitliche Strecke eine andere Raumordnung, ein anderes Beziehungsgefüge für die Stadt Marl, indem sie sinnlich erfahrbar das geologische Sediment mit einer visuell, akustisch und haptisch ausgelegten Topographie der Stadt in einen Zusammenhang bringt. Sie agiert dabei wie der Sammler früherer Zeiten, der seine Kunst- und Wunderkammer mit ausgestopften Tieren, Absonderlichkeiten, hochkarätigen Kunstwerken, Gemälden, technischem gerät, Münzen, Landkarten usw. anfüllte, um sich die äußere Welt ins Innere eines Kabinetts zu holen. Er folgte dabei nicht den universellen neuzeitlichen Ordnungsmustern des Wissens, sondern orientierte sich vielleicht an der Elementenlehre, an den Aggregatzuständen der zusammengetragenen Materialien.

Heterotopien bestimmen sich aber auch durch ihr Verhältnis zu ihrem Gegenteil, den Utopien, die wörtlich genommen Nicht-Orte sind. „Utopien sind Orte ohne realen Ort.“ Zwischen Utopien und Heterotopien besteht eine Verbindung, und zwar in der Erfahrung des Spiegels. Der Spiegel ist zugleich Utopie = irrealer Raum und Heterotopie = realer anderer Raum. Der Spiegel ist ein Ort ohne Ort. Zugleich funktioniert er als Heterotopie, weil der Ort, an dem man ist, während man sich im Spiegel betrachtet, absolut real mit dem gesamten umgebenden Raum in Verbindung tritt.

Die Spiegel-Metapher beschreibt meinem Erachten nach eine Realität, die uns in klanglichen Interventionen im öffentlichen Raum oft begegnet und das nicht nur in Situationen, in denen uns der Spiegel in Form einer Videowand wie bei Georg Klein entgegentritt. Durch die spezifischen klangräumlichen Formen, die zu hören und zu sehen wir aufgefordert werden, werden wir über unsere Wahrnehmung nicht nur auf uns selbst zurückgeworfen, sondern auch in einen realen anderen Ort gestellt.

So könnte man sagen, dass die Funktion klanglicher Interventionen im öffentlichen Raum in der Produktion von Raum liegt und dass sie als solche eine Heterotopie darstellt. Nicht gemeint als gemütliche oder völlig irreale Gegenwelt, sondern als Spiegel – als reale Utopie, die uns zeigt, was wir tun und was wir sind: Räume und Ordnungen produzierende Wesen. Und vielleicht ist die Erfahrung in solchen Räumen mit der des kleinen Kindes vergleichbar, das beim allerersten Erkennen seiner selbst im Spiegel in der Regel Laute des Lachens und des Wohlgefallens ausstößt.


1 Die Charta von Athen, 1943 von Le Corbusier veröffentlicht, ist Endprodukt einer Debatte um den Städtebau, die 1928 mit der Gründung des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne in La Sarraz ihren Ausgang nahm. Diese Debatte fand 1933 zu einem vorläufigen Abschluss in einem Kongress über die Funktionale Stadt ihren ersten Abschluss. Auf der Abschlußtagung dieses Kongresses verlas Le Corbusier eine Art Resolution, die er dann 1943 mit Kommentaren versehen als Charta von Athen publizierte.

2 F. Lyotard, Das Postmoderne Wissen, Graz 1986

3 Thierry de Duve, Ex Situ, in: Installation Art, hrsg. Von Andrew Benjamin, Art & Design Profile Nr. 30, London 1996, S. 25ff

4 Fernand Kreff, Marc Augés Diagnose der Gegenwart, S. 3 ff. www.wittgenstein2000.at/workingpapers/Auge.doc

5 aus: Definitionen, in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 51

6 aus: Rapport über die Konstruktion von Situationen, in: a.a.O. S. 39

7 siehe dazu den Katalog zur Ausstellung zum Deutschen Klangkunst-Preis in Marl 2004, hrsg. vom Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Marl 2004. S. 28ff.

8 siehe dazu Georg Klein, TRASA warszawa-berlin, hrsg. von Julia Gerlach in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Warschau, Heidelberg, 2004

9 MichelFoucault, Die Heterotopien, in: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main 2005, S. 10

Den Radiovortrag, der im Original den Titel Les utopies réelles ou les lieux et les autres lieux trägt, hat Foucault bereits 1966 gehalten. 1967 hat er diesen Text erweitert in der Fassung Les espaces autres. In dieser Form ist er allerdings erst 1984 veröffentlicht worden im Kontext der Internationalen Bauausstellung in Berlin (IBA).

Orte und Nicht-Orte. Klangliche Interventionen im öffentlichen Raum – Kompensation und Spiegelung. Vortrag  auf dem Kolloquium „Räume der Musik“ veranstaltet durch das  Europäische Zentrum der Künste Hellerau 2005.