Peter W. Schatt
Edel & Weiß – zur Ausstellungseröffnung Katja Kölle und Rolf Gerhards in Viersen am 20. Januar 2013
Der Titel bzw. das Thema einer Ausstellung – wie auch der Titel oder das Thema eines Buches oder eines Bildes – kündigt etwas an, bildet eine Art Versprechen. Erwartungen werden geweckt, und wir prüfen mit Recht, ob bzw. in welcher Hinsicht sie eingelöst werden.
Hier wurde uns verheißen, Edel und Weiß zu erleben: Edles und Weißes zu sehen und – wer insbesondere Katja Kölle kennt – vielleicht auch zu hören, zu riechen oder zu schmecken.
Öffnen wir unsere Sinne – sehen wir uns um, hören wir uns um: Wir sehen weiße Skulpturen, hören dann und wann ein Rauschen, von dem wir aus der Einladung wissen, dass es ein weißes Rauschen ist – und wir sehen quantitativ wie qualitativ farbintensive Bilder.
Wenn das Eine – die klingenden Skulpturen – das Weiße ist, sind die Bilder dann das Edle? Wenn ja – worin besteht es? Oder ist das Weiße zugleich auch edel? Wenn ja – worin besteht daran das Edle? Im Rauschen? In den Formen? In dem spezifischen Zusammenwirken von Form und Klang? Hat gar das Farbige etwas mit dem Weißen zu tun – also: Wie verhalten sich die Elemente dieser Ausstellung zueinander? Bloß additiv – hier das Eine, dort das Andere – oder beziehen sie sich aufeinander – so, wie das Edle mit dem Weißen zu tun hat? Und wenn dies der Fall ist: In welcher Hinsicht beziehen sie sich? Oder bilden sie einen Kontrast: Hier das Weiße, dort das Edle? Ist das Weiße dann nicht edel?
Sie sehen: Vor dem Hintergrund dessen, was gezeigt wird, ist der Titel der Ausstellung eine Herausforderung: die Herausforderung, sich in der Beschäftigung mit den Werken auf das Spiel mit Bedeutungen einzulassen, das die Urheber im Titel trieben – ein Spiel, das mit dem Spiel mit Materialien korrespondiert, dessen Ergebnisse Sie sehen und hören.
Es ist ein Spiel in dem Sinne, wie Johan Huizinga es erkannte: Kein belangloses Tun, sondern ein zielgerichtetes Handeln nach bestimmten Regeln und mit bestimmten Absichten – freilich nicht solchen, die dem „Reich der Notwendigkeiten“ entstammen, sondern die ins „Reich der Freiheit“ führen: zur Kultur, deren Wurzel Huizinga im Spiel sah. Den Ernst solcher Spiele erkennen wir heute noch in Begriffen wie Fernsehspiel, Olympische Spiele und Liebesspiel, und die Kunst hat an diesem fundamentalen Spiel teil insofern, als sie nicht auf praktische Lebenszwecke ausgerichtet ist: Obwohl Katja Kölles Arbeiten sich auf Räume beziehen, ist sie keine Innenarchitektin, obwohl Rolf Gerhards sich auf Landschaften beziehen, ist er kein Landschaftsmaler. Vielmehr gestalten beide kulturelle Räume – aus ihren Arbeiten entstehen neue Bereiche für neue Bedeutungen.
Das geschieht durchaus im Spiel mit Bedeutungen: Als ich den Titel „Edel & Weiß“ zum ersten Mal hörte dachte ich natürlich zuerst an das Edelweiß – dann allerdings auch an weiße Wohnungseinrichtungen, weiße Kleidung, Brautkleider – und ferner an das weiße Papier, das der Autor mit Worten, und an die weiße Leinwand, die der Maler mit Farben bedeckt. Vor wenigen Tagen noch wies mich ein Student auf den weißen Rauch hin, der – aus dem vatikanischen Schornstein aufsteigend – die geglückte Papstwahl symbolisiert.
Ja, meine Damen und Herren, Weiß ist in unserer Kultur ein Symbol – ein Symbol für das Edle, das sich mit verschiedenen Inhalten zeigen kann: So verweist die einheitlich weiße Wohnungseinrichtung auf den einheitlichen, untadeligen Geschmack des Inhabers bzw. auf den Nimbus von Sauberkeit, das Weiß der Kleidung zeigt, dass ihr Träger sich um Reinigungskosten nicht zu sorgen braucht, das weiße Brautkleid verweist auf die Reinheit der Braut, die standhaft ihre Unschuld bewahrt hat – und die sprichwörtliche Angst des Autors vor dem weißen Papier bzw. die des Malers vor der weißen Fläche der Leinwand ist wahrscheinlich die Angst davor, die Reinheit und Unberührtheit des Materials dadurch anzutasten, dass man durch Schrift und Farbe in die Welt der Symbole eintritt, dem offenen, neutralen, allgemeinen Weißen etwas hinzufügt und dadurch Ab- und Eingrenzungen vornimmt, Bekenntnisse ablegt.
Der Vorgang der Symbolisierung, seine Funktion und seine Tragweite ist am Edelweiß sehr schön zu erkennen: Die Pflanze ist ja weder weiß noch edel – ihre Blüten sind eher hellgrau, die Blätter grün, und sie ist eher unscheinbar, ja mickerig – zumindest im Vergleich zur Rose, Lilie, Nelke. Freilich sind diese für uns eher Ergebnisse von Züchtung, also Kultur-Produkte, während das Edelweiß nur in der Natur zu finden ist, und zwar in der unberührten Natur und nur selten sowie unter schwierigen Bedingungen: Mein Edelweiß hat vor 50 Jahren ein Jugendfreund unter Lebensgefahr von einem hohen schlüpfrigen Felsen für mich gepflückt. Das Edle am Edelweiß liegt also nicht in seiner Erscheinung, sondern in seiner Seltenheit und in der Schwierigkeit, es zu erringen – und so ist das Weiß, das ihm angedichtet wurde, eine von etwas Anderem, was dem Menschen edel erscheint, abgeleitete Projektion des Edlen auf seine Erscheinung.
Erst die kulturelle Zuweisung also hat das Edle am Edelweiß hervorgebracht – es ist eine kulturelle Leistung, am Weißen das Edle zu sehen. Zugleich ist es ein Wagnis, das Weiß zu berühren – das Edelweiß zu pflücken, die Braut zu berühren, das Papier zu beschreiben, die Leinwand zu bemalen – oder das weiße Rauschen in weiße Behälter zu bannen und hier auszustellen. Dieses Wagnis besteht im Widerspruch zur herrschenden Kultur, es ist das „Wagnis der Rückhaltlosigkeit“ (Carl Dahlhaus), dem neue Kunst sich verdankt. Auch den Grund eines solchen Wagnisses kann uns der Blick aufs Edelweiß zeigen: Kulturelle Praxis hat das Edle an ihm nicht nur hervorgebracht, kultureller Gebrauch hat es auch wieder verunreinigt: An zu vielen Jägerhüten, Jackettaufschlägen, Lederhosen prangt es – aus Horn geschnitzt, zu viele Dirndl-Busen schmückt es, hinter Glas gefasst, zu viele Lieder wurden darüber gesungen.
Davon ist das weiße Rauschen frei – allerdings ist diese Freiheit seiner Künstlichkeit zu verdanken: Es kommt in der Natur nicht vor, sondern ist das Ergebnis einer künstlichen Synthese, der Übereinanderschichtung aller Frequenzen, die es gibt. So sind Katja Kölles Objekte zunächst Ergebnis des Versuchs, durch Künstlichkeit eine Reinheit des Klanges und mit ihm eine Reinheit des Hörens zurück zu gewinnen, die durch allzu viele Musiken verloren zu gehen droht. Werkgeschichtlich ist diese Arbeit das Ergebnis einer zunehmenden Abstraktion von der Natur: Waren frühe Arbeiten durch den Umgang mit konkreten rauschenden Natur- und Kulturgeräuschen bestimmt – vom farbigen Rauschen u. a. von Bächen, Flüssen, Brunnen, Wasserfällen, auch Pumpanlagen und vom Baumrauschen –, so hat sie hier alles übereinander gelegt und vertraut der Ununterscheidbarkeit des weißen Rauschens und dem Rausch des Hörens, das an der Natur keinen Rückhalt mehr findet. Gleichwohl wird es darauf bezogen: durch die weißen Objekte nämlich, die dem Klang einen Raum verleihen, und die an Natur erinnern – obwohl sie unzweifelhaft höchst künstlich sind. So sind die tönenden Objekte Ergebnis einer synthetischen Leistung, die dem Edlen der kultürlichen Leistung die Aura von Natürlichem aufmodelliert – und damit zugleich auch dem realen Raum von Kultur, in dem wir uns befinden, eine neue Atmosphäre der Kunst verleiht.
Rückhaltlos sind diese Arbeiten aber auch insofern, als sie nichts repräsentieren: Sie vergegenwärtigen keine eigenen Ansichten, Einschätzungen, Urteile der Künstlerin, sie sagen nicht: „Seht bzw. hört mal, so ist die Welt“. Sie sind vielmehr Angebote für Ihre eigenen Projektionen, Anlässe, Möglichkeiten für die Wahrnehmung, die von uns wie ein weißes Papier oder eine weiße Leinwand mit eigenen Vorstellungen gefüllt werden kann….
Peter W. Schatt
Eröffnungsrede (Ausschnitt) am 20.01.2013 in der Galerie Alte Lateinschule, Viersen